Der Mann, der nicht lesen konnte

Ática | 2002

Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Nicolai von Schweder-Schreiner

Ein Junge begegnete auf der Straße einem Mann, der auf dem Bürgersteig saß.

Der Junge war auf dem Heimweg von der Schule. Der Mann ruhte sich nach einem harten Arbeitstag aus.

“Entschuldigung, wie spät ist es?”, fragte der Junge.

Der Mann erwiderte, er habe keine Uhr, und um die Wahrheit zu sagen, könne er auch keine Uhr lesen. Das verstand der Junge nicht. Der Mann erklärte es ihm:

“Ich verstehe nicht, wozu dieser große und dieser kleine Zeiger da sind. Sie drehen und drehen und drehen sich, und das ist auch schon alles, was ich weiß.”

“Aber das ist doch ganz einfach!”, wunderte sich der Junge. “Der kleine Zeiger zeigt die Stunden an und der große die Minuten. Zum Beispiel: Wenn der Kleine auf der Zehn steht und der Große auf der Fünf, dann heißt das, dass es fünf nach zehn ist.”

Der Mann zuckte mit den Schultern.

“Aber welches ist die Zehn und welches ist die Fünf? Ich komme immer durcheinander mit den Zahlen.”

Der Mann war alt genug, um der Vater des Jungen zu sein.

“Können Sie denn keine Zahlen lesen?”

“Weder Zahlen noch Buchstaben.”

“Sie können nicht lesen?”

“Weder lesen noch schreiben.”

Der Junge beäugte den Mann, der da vor ihm auf dem Bürgersteig saß.

“Manchmal”, erzählte er, “sehe ich mir auf der Straße die Plakate an und frage mich, was wohl darauf geschrieben steht. Oder ich stehe vor einem Zeitungsstand und betrachte die Zeitschriften und Zeitungen. So gern würde ich die Nachrichten lesen können; verstehen, was auf der Welt vor sich geht; die Straßenschilder lesen können; verstehen, was auf den Verpackungen steht; die Aufschriften auf den Bussen lesen und wissen, wohin sie fahren…”

Der Mann seufzte.

“Manchmal schäme ich mich!”, gestand er. “Ich muss die Leute immer alles fragen. Ständig fühle ich mich außen vor. So gern würde ich mich unter einen Baum setzen, ein Buch aufschlagen und eine Geschichte lesen!”

Ein Mann in einem Mantel eilte in einer Zeitung lesend vorbei. Am Zeitungstand auf dem Platz las ein Mädchen in einem Heft. Ein junger Mann parkte sein Motorrad und zog einen

Stadtplan aus dem Rucksack, um nach einer Straße zu suchen.

“Ich bin nicht von hier”, erklärte der Mann. “Die Stadt, aus der ich komme, ist weit weg, hinter dem Gebirge, man muss die Eisenbahn nehmen, über das nächste Gebirge und dann über noch eins, sie liegt in der Nähe vom Meer. Mit dem Bus ist man ungefähr drei Tage unterwegs.”

Und seine Augen schimmerten traurig.

“Gerade eben noch habe ich an zu Hause gedacht, an meine Mutter, meinen Vater, meine Geschwister, die Leute dort… ”

Der Junge suchte sich einen Platz zum Hinsetzen.

“Und du?”, wollte der Mann wissen und musterte den Jungen. “Kannst du schreiben?”

Dem Jungen schwoll die Brust:

“Ich bin schon fast in der dritten Klasse!”

Der andere lächelte:

“Ich habe eine Braut, dort wo ich herkomme. Sie sieht aus wie eine Prinzessin. Das schönste Wesen auf der ganzen Welt. Eines Tages werden wir heiraten… ”

Der Mann hatte eine Idee. Er bat den Jungen:

“Kannst du einen Brief für mich schreiben?”

Der Junge nickte und holte ein Heft und einen Kugelschreiber aus dem Rucksack.

Der Mann richtete sich auf. Er dachte einen Augenblick nach. Ein lauwarmer Wind wehte. Der Mann erzählte davon, dass die große Stadt voller Qualm und hupender Autos war. Und dass er sich einsam fühlte. Dass er manchmal Angst hatte, dass er viel arbeitete, nur wenig verdiente und dass in der Stadt alles zu teuer war. Er fragte, wie es dem Vater ging, der Mutter, den

Geschwistern. Er fragte danach, ob es regnete. Ob die Kuh Lindóia schon gekalbt hatte. Und ob es Jandira gut ging.

Der Junge schrieb und schrieb.

Der Mann redete weiter. Er erzählte, er habe ein Zimmer in einer Pension gemietet und wohne dort mit drei anderen zusammen, und dass er einmal umsteigen müsse, um zur Arbeit zu kommen. Er versprach, etwas Geld beiseite zu legen. Zum Schluss ließ er ausrichten, er sterbe vor Sehnsucht und dass er Ende des Jahres, so Gott wolle, den Bus nehmen und nach Hause kommen würde.

Der Junge schrieb alles in Schönschrift auf, faltete das Papier und gab es dem Mann.

Inzwischen war es Abend geworden. Der Junge musste gehen.

Ein Licht erschien am Himmel, ohne dass jemand es bemerkte.

Der Mann drückte dem Jungen die Hand.

(Conto "O homem que não sabia nem ler“ do livro Se eu fosse aquilo.)